Der Danziger Stuhl

Ein neuer Stuhl steht im Schlafzimmer, ein Stuhl, an dem viel hängt. So sieht er aus:

Den Stuhl, der in der Familie immer nur der „Danziger Stuhl“ genannt worden ist, haben meine Großeltern für ihre erste gemeinsame Wohnung anfertigen lassen, 1904 war das. Irgendwo existiert ein Bild, auf dem Großvater auf diesem Stuhl sitzt, aber ich konnte es in meinen zahlreichen Kisten, Alben und Ordnern mangels Ordnung nicht mehr finden. Hier ein Bild der Großeltern in ihrem Haus in Marienburg in Ostpreußen. Meine Großmutter war damals 20 Jahre alt, Großvater 33 und frisch gebackener Notar. Da galt es, sich standesgemäß einzurichten:

Als Großvater 1939 plötzlich auf einer Urlaubsreise nach Genua gestorben ist, verkaufte meine Großmutter das Haus und zog in eine Wohnung nach Berlin. Der Stuhl kam mit und hat offenbar auch die Tatsache überstanden, dass Großmutters Wohnung 1945 „ausgebombt“ worden ist, wie man sagt.

Großmutter zog mitsamt dem Stuhl in eine Wohnung im Haus ihrer jüngsten Tochter in Berlin-Zehlendorf, wo sie 1960 verstorben ist. Den Stuhl erbte meine Mutter, er reiste also ins Rheinland ins Haus meiner Eltern.

Dort nahm mein Vater darauf Platz. Der „Danziger Stuhl“ war sein Platz, er stand am Kopf des Esstisches, denn mein Vater hat sein Leben lang am Kopf des Esstisches gesessen. Dort arbeitete er auch gerne, den Schreibtisch, der in seinem Zimmer im Obergeschoss gestanden hat, hat er fast nie benutzt. So macht er auf dem folgenden Bild Buchhaltung – auf dem „Danziger Stuhl“ sitzend. Damals war er immerhin schon 87 Jahre alt.

Nach dem Tod meines Vaters deckte meine Mutter, wenn ich zu Besuch kam, wie selbstverständlich für mich an diesem Platz. Aber das wollte ich nicht, kam mir komisch vor.

Der Stuhl wanderte dann mit meiner Mutter ins Altersheim, in einer Anlage zu ihrem Testament bestimmte sie ausdrücklich mich als Stuhl-Erben. Aber ich wollte ihn nicht, so zog der Stuhl um ins Haus meiner Schwester. Die wollte ihn jetzt nicht mehr haben – kein Platz. Ob ich ihn nicht haben wollte?

Bedenkzeit, Bedenkzeit. Ist ja doch ein schönes Stück ……. und seit gestern steht er hier.

 

10 Gedanken zu „Der Danziger Stuhl

  1. Karl-Heinz

    Also ein Stuhl mit einer interessanten Familien-Geschichte. Übrigens sehr gut gebaut und deshalb hat er auch so viele Jahre überstanden. Also ich würde ihn an Deiner Stelle in Ehren halten.
    Liebe Grüße, Karl-Heinz

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    1. emhaeu Autor

      Muss mich noch dran gewöhnen, aber zum Trödelmarkt kommt er gewiss nicht, obwohl ich dazu neige, alles, was nicht niet- und nagelfest ist, zu verkaufen ….

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  2. puzzleblume

    Wenn so ein Möbel zwischendurch noch andere, unbestimmtere Geschichte erwerben konnte, als die „Besetzung“ durch eine wichtige Familienpersönlichkeit, ist das bestimmt leichter, sich damit wieder gemütlich zu fühlen. Das untenherum so leicht wirkende Möbelstück hat auch kaum Finsteres an sich, wie so viele alte dunkle Eichenmöbel aus der gleichen Zeit es hätten.

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  3. Susanne Haun

    Hallo Martin,
    ich verstehe sehr gut, dass du nicht auf den Stuhl deines Vaters am Kopfende des Tisches sitzen konntest.
    Ich schaffe es auch nicht, auf meine Mutters Platz in der Küche zu sitzen. In der Regel bleibt der Platz leer. Als ob sie gleich kommen würde uns sich hinsetzt.
    Viele Grüße von Susanne

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  4. Pit

    Hallo Martin,
    das ist aber nun wirklich ein Prachtstueck. Unbedingt „habenswert“, finde ich.
    In meiner Familie gab es so gut wie nichts an erhaltenswerten alten Stuecken, und die zwei Dinge, die ich gerne haette, stehen immer noch in Alfter. Ich weiss nicht, ob sich dafuer die Transportkosten lohnen.
    Aber Mary hat eine ganze Menge alter Stuecke aus Familienbesitz, die wir alle im Zusammenhang mit unserem Umzug hier nach Fredericksburg haben aufarbeiten lassen. Das war zwar nicht ganz billig, aber die Leute haben wirklich ganz exzellente Arbeit geleistet, und so haben wir jetzt einige wunderschoene antike Moebelstuecke hier, u.A. das Bett im Gaestezimmer: 140 Jahre alt. Dein Beitrag hier bringt mich auf die Idee, dass ich das Alles auch mal fotografisch festhalten sollte.
    Hab‘ einen feinen Restsonntag, und eine gute neue Woche,
    Pit
    P.S.: das Haus Deiner Grosseltern ist aber nun wirklich eine hochherrschaftliche Villa!

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    1. emhaeu Autor

      Hallo Pit!
      Wie man es so sehen will: Das Haus der Großeltern war mitten in der Stadt, schräg gegenüber vom Gericht, damit Großvater es nicht so weit hatte. Ein Reihenhaus, könnte man sagen, mit schönem Garten, aber von der Strasse aus gesehen nicht so arg eindrucksvoll. Kann man sich heute noch mit StreetView ansehen, steht noch, wenn auch ein wenig ramponiert, wohnen wieder Rechtsanwälte drin ….

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      1. Pit

        „Von der Strasse aus nicht so eindrucksvoll“: wie bei uns, da liegt der Wert ja auch im Inneren! 😉

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