
Zum Buchstaben „I“ ist mir nichts eingefallen. Weder habe ich einen Igel im Zimmer noch ein Bild von Tante Ilse. Drum kommt diesmal ein Gegenstand, den es gar nicht gibt, der nur in einer Geschichte existiert, die ich vor Jahren mal geschrieben habe und aus der Bloggerkollege Buchalov (https://juergenkuester.net/) ein von ihm illustriertes und schön gestaltetes Büchlein gemacht hat. Weil ich das gedruckte Büchlein hier nicht recht präsentieren kann, folgt nur die Geschichte:
Das Ding steht jetzt schon seit Jahren in meinem Wohnzimmer. Auf dem kleinen Regal. Habe ich mal auf dem Trödelmarkt gekauft, sage ich, wenn mich jemand danach fragt, ein Isolator, die Form hat mir gefallen. Das stimmt zwar nicht, aber mit dieser Antwort geben sich alle zufrieden. Mehr verrate ich nicht, ich bin vorsichtig geworden im Laufe der Zeit.
Der Irene, meiner dritten oder, wenn ich Renate dazu zähle, die nie richtig mit mir zusammenziehen wollte, meiner vierten Lebensgefährtin, habe ich mehr erzählt. Ganz vorsichtig. Sie hat verständnisvoll reagiert. Jedenfalls zuerst, später hat sie sich doch über meinen Tick mit dem Porzellandings, wie sie sich ausdrückte, lustig gemacht. Seitdem bin ich auf der Hut. Ein Isolator vom Trödelmarkt, das reicht.
Vielleicht könnte ich zugeben, dass es sich um ein Erbstück handelt. Aber ich bin, wie gesagt, auf der Hut. So richtig weiß ich es ja auch nicht. Mein Großvater soll das Ding geschenkt bekommen haben, von seinem Segelverein, und zwar für 20 Jahre Vorstandsarbeit oder so etwas Ähnliches. So hat man es mir erzählt: Ein Ehrenpoller aus weißem Porzellan.
Mein Großvater ist 38 Jahre vor meiner Geburt einem Herzleiden erlegen, in Genua, wo er sich nach Korsika einschiffen wollte. Viel hat er mir nicht hinterlassen: Eine goldene Krawattennadel, die Speisenfolge des Festmenüs anlässlich des Besuchs des Kaisers in seiner Heimatstadt – ein großes Ereignis, an dem er teilnehmen durfte – und den Ehrenpoller. Wenn man ihn herumdreht, dann sieht man eine Art Plakette, auf der steht: „Segel Club Rhe, Königsberg“. Dazu ein Wappen mit dem Spruch: “In blauer Fluth – in Gottes Huth”.
Blaue Flut. Nun ja, ich war mal da oben an der Ostsee, mit Irene. Deshalb musste ich ihr ja von Großvater erzählen, denn viel Lust, in den Ferien nach Polen zu fahren, hatte sie nicht. Mit dem Schiff übers Haff, viel Wind, grau-braunes Wasser. Irene hat rumgemault, sie wollte sich an den Strand legen, war aber zu frisch. Ich wollte Großvaters Grab suchen und sein Ferienhaus in dem kleinen Ostseebad, von dem meine Mutter immer erzählt hat, ihr Kindheitsparadies. Von Großvaters Grab war keine Spur zu finden. Und das Ferienhaus? Ein paar Häuser wären in Frage gekommen, aber natürlich war da nirgends ein Türschild, auf dem gestanden hätte: Ferdinand Gogga, Kaufmann. Am Steg lagen einige Boote. Hat es damals auch so ausgesehen? War das Mutters Sommerparadies? Kühle Luft, ein Kiosk, Softeis. Keine Ahnung, vielleicht hat es ihr Paradies nur in der Fantasie gegeben. Taka-Tuka-Land oder Haff, Großvaters Ferienhaus oder Villa Kunterbunt, für mich als Kind gab es da sowieso keine großen Unterschiede. Alles gleich weit weg, gleich unwirklich: Taka-Tuka-Land, Großvaterland, Lummerland.
Nur der Ehrenpoller, der ist wirklich, den kann ich anfassen. Großvaters Boot soll nicht weit vom Ferienhaus am Haffsteg gelegen haben, im Sommer ständig bereit für eine Ausfahrt übers Haff, ein eigens angestellter Mann, Handwerker und Steuermann in einem, habe sich um das Boot gekümmert.
Ein eigenes Boot mit Bootsmann am Steg, Ferienhaus mit Blick aufs Haff. Vor Jahren hatte ich auch ein Boot, nur 3,90 m lang, sonst hätte es nicht in den Keller gepasst. Ganz schön schnell, das kleine Ding, aber irgendwie hatte ich immer das Gefühl, dass die, die da mit ihren dicken Booten rumschippern, mich einfach ignorierten, so elegant und schnell ich auch fahren mochte.
Mein Auto, mein Haus, meine Yacht. Viel habe ich nicht vorzuweisen. Obwohl Gäste von meinen 63 Quadratmetern immer recht angetan sind. Balkon, schöne Aussicht auf eine ruhige Straße mit alten Bäumen. Für mich alleine habe ich genug Platz. Tagsüber bin ich in der Firma, jedes zweite Wochenende bei meiner momentanen Lebensgefährtin. Was soll ich da mit einem Haus, womöglich noch mit Garten? Lange habe ich es nicht mehr bis zum Ruhestand. Dann werde ich mir etwas überlegen müssen. Gemeinsam aufs Land ziehen, das wäre etwas. Andererseits auch nur so ein Klischee.
Noch fühle ich mich wohl in der Firma. Eine Spedition, nette Kollegen; ich koordiniere die Termine. Meine Mutter wollte, dass ich Jura studiere, wie Großvater, also der andere Großvater. Deshalb habe ich auch damit angefangen damals. Aber nie so richtig. Dann eine Lehre im Autohaus, 10 Jahre Autohandel, 25 Jahre Spedition. Keine Yacht, kein Ferienhaus, aber genug Geld auf dem Konto, um ein Haus auf dem Land anzuzahlen. Falls das überhaupt was ist für mich, so ein Landleben zu zweit. Und falls ich nach meiner Pensionierung immer noch mit Beate zusammen bin.
Von meinem Großvater und seinem Ehrenpoller habe ich auch meiner Jetzigen nichts erzählt. Für sie ist das ein Isolator. Ein glattes, weißes Ding, auf dem etwas von der blauen Flut steht. Wenn ich alleine bin, dann nehme ich ihn in die Hand, spüre das kühle Porzellan und schließe die Augen. Dann sehe ich das Haff vor mir. Ich stehe auf der Terrasse, hinter mir Kinderstimmen, vor mir der Steg, an dem zwei oder drei Boote mit flatternden Segeln liegen. Spaziergänger und Familien mit Badesachen ziehen vorüber. Leichte Brise vom Meer her, Kiefernduft. Dann kommt der Bootsmann, der wie immer einen blauen Pullover und Sandalen ohne Strümpfe trägt, und ruft: Guter Wind heute, Herr Gogga! Wie wäre es mit einer Ausfahrt?