Da sitzen Großmutter und nicht etwa Großvater, sondern sein Bruder auf dem Boot des wohlhabenden Bruders und schippern übers Frische Haff. Scheint nicht allzu warm gewesen zu sein an diesem Sommertag 1915, denn die Großmutter trug einen bodenlangen Rock. Aber vielleicht gehörte es sich auch so für eine gerade 20 Jahre alte gewordene Mutter einer Tochter.
Jedenfalls: Ich sitze immer noch an den alten Fotos und versuche Stück für Stück, rauszufinden, was das für Menschen waren, die da abgebildet sind.
Im Moment beschäftige ich mich ja für ein neues Buch mit Fotos, die meine Großmutter kurz nach der Jahrhundertwende gemacht hat. Auf einem Bild ist die ganze Familie abgebildet. „Auf der Balkon meines Elternhauses“ hat Großmutter darunter geschrieben. Darüber muss doch mehr herauszufinden sein, habe ich mir gedacht, ein Gedanke, der mich zwei komplette Nachmittage beschäftigt hat.
In Königsberg/Ostpreußen hat das Haus gestanden, das wusste ich schon. Da meine Urgroßeltern ein Geschäft hatten, war die Adresse mit Hilfe des Einwohnerbuches von Königsberg aus dem Jahr 1937 (kann man online einsehen) auch bald gefunden: Wassergasse 16-18. Jetzt wollte ich aber wissen, wie es da ausgesehen hat.
Nach einigem Googeln fand ich diese Anzeige:
Prima, Alexander Gogga, das war mein Urgroßvater. Und dass sie mit Textilien gehandelt habe, wusste ich schon, denn ich habe irgendwo im Schrank eine große Tischdecke nebst Servietten, die der Sohn und Geschäftsnachfolger des Urgroßvaters meiner Mutter zur Hochzeit geschenkt hat. Aber was ist das für eine Straße gewesen, die Wassergasse?
Es ist wirklich erstaunlich, was man im Internet inzwischen alles finden kann. Die Bildsuche ergab über 300 Bilder der Wassergasse in Königsberg. Eine Geschäftsstraße zwischen Schloss und dem alten Hafen der Stadt, mitten in der Altstadt also.
Fehlt ein Bild vom Haus Nr. 16-18. Also habe ich mir alle 300 Bilder angesehen. Die Hausnummern konnte man nicht lesen, hätte ich mir denken können. Aber manchmal stand die Hausnummer in den Erläuterungen – Nr. 16-18 war nicht dabei. An der Stelle hätte ich aufhören können, aber so ein richtiger Forscher-Detektiv lässt so schnell nicht locker.
Man müsste anhand eines alten Branchenbuchs herausfinden, welche Firmen mit welchen Hausnummern in der Nachbarschaft gewesen sind, um dann anhand der 300 Fotos der Bildersuche …
Stunden später: War nichts. So geht es nicht. Ich weiß ja nicht einmal, ob die Hausnummer 17 gegenüber oder neben der Hausnummer 16 liegt.
Vielleicht reicht es ja auch, wenn ich ein Bild finde, dass die Atmosphäre zeigt, am besten eins von dem alten Stadthafen mit den malerischen Segelkähnen. Gibt es in Massen, solche Bilder, denn nach dem Bau des neuen Hafens war der alte malerische Stadthafen zu einer Art Touristenattraktion geworden, hab ich aus einem alten Reiseführer gelernt. Und der Fischmarkt war da auch, außerdem ein großes Textilkaufhaus. Und, hoppla, auf einem Bild von der Hafenseite aus konnte man Aufschriften auf den Häusern der Wassergasse sehen, große Reklameschilder. So konnte ich die Hausnummern 20-28 finden. Da kann 16-18 doch nicht weit sein!
War aber doch irgendwie weit entfernt, irgendwas stimmte da nicht. Wieder alte Stadtpläne studiert. Aha, da gab es eine Brücke, die Krämerbrücke, die die Wassergasse in zwei Teile geteilt hat. Wenn die Nummer 20 das letzte Haus links von der Brücke gewesen ist, muss doch die 18 direkt recht von der Brücke gelegen haben. Hat sie aber nicht, denn auf den vielen Bildern von der Brücke, die im Internet zu finden waren, stand direkt rechts von der Brücke immer ein (damals) neues, großes Geschäftshaus.
Neue Idee. Der Balkon, der muss doch zu sehen sein. Also habe ich mir alle Bilder von der Fischmarkt-Straße in Königsberg angesehen. Es waren wieder eine Menge Bilder, aber die allermeisten Häuser hatten keinen Balkon. Typische alte Kaufmannshäuser am Hafen, wie es sie auch in Lübeck gibt. Da wurden auf der Hafenseite Waren verladen, da gab es keine Balkone, auf denen man hätte Familienfeste feiern können.
Drauf war ich etwas ratlos. Aber ein richtiger Detektiv … (s.o.)
Ich nahm mir nochmal Einwohnerbücher und Branchenverzeichnisse vor. Habe die Adresse des Urgroßvaters gefunden, an der er gewohnt hat, bevor er in die Wassergasse gezogen ist und die Adresse seines Sohnes. Und, im Branchenbuch 1937 waren in einem separaten Teil tatsächlich die Firmen jeweils nach Hausnummern gelistet. Und grobe Skizzen der Straßen mit einzelnen Hausnummern gab es auch. Die Hausnummern waren leider nicht oder kaum lesbar. Nach einer Weile habe ich verstanden, wie man anhand dieses Verzeichnisses tatsächlich ein Haus lokalisieren kann, denn auch Querstraßen und Eckhäuser waren erwähnt.
Das war es: Das oben erwähnte große neue Geschäftshaus rechts neben der Brücke hatte den Eingang zur Querstraße, der Kantstraße, war also unter den Häusern der Wassergasse nicht zu finden gewesen. Urgroßvaters Geschäft muss also direkt neben diesem Geschäftshaus gelegen haben.
Wieder Bildersuche. Bilder der Kantstraße, Bilder der Krämerbrücke. Such, such. Und dann, tatsächlich, auf einem Bild ist das Haus zu sehen, nicht ganz, aber immerhin: Es hat einen großen Balkon und unten kann man mit Mühe die Reklameaufschrift lesen: „Inhaber: Alexander …“ – – – gefunden! Das kann nur Urgroßvaters Haus sein!
Technisch nicht das beste Bild, aber es ist erstens sehr alt und zweitens habe ich nicht das Original, sondern musste eine Fotokopie einscannen.
Im Februar 1905 hat meine Großmutter die Aufnahme gemacht. Sie war sozusagen Fotoamateurin, die mit Plattenkamera und eigener Dunkelkammer Fotos machte, die sie dann in Alben klebte. Einen Teil dieser Alben habe ich voriger Woche in Fotokopie erhalten, einige Seite besitze ich auch im Original. Im Moment scanne ich all die Bilder ein und bearbeite sie – so gut es geht. Soll ein Buch draus werden.
Das Bild oben ist aus zwei Gründen bemerkenswert: Erstens, weil es die Haushälterin im Karnevalskostüm zeigt: Als Schornsteinfegerin. Schwarz ist das Kostüm ja, aber mit solch einem solch langen Kleid dürfte man schwerlich Kamine kehren können.
Zweitens aber sieht man im Hintergrund einen Schrank. Einen Kleiderschrank immer in meinem Kinderzimmer gestanden hat. Als ich mit der Fotografiererei angefangen habe, habe ich mich in diesen Schrank gesetzt, um die Filme in die Entwicklerdose einzulegen. Als meine Mutter starb, war der Schrank ziemlich heruntergekommen, keiner wollte ihn. Da hat meine Tochter in ihre Wohnung genommen, später fein restauriert. So steht er nach einigen Umzügen immer noch in einem Schlafzimmer und dient immer noch als Kleiderschrank.
Es wurde immer erzählt, es handele sich um den Schlafzimmerschrank, den Großmutter und Großvater sich für ihre erste gemeinsame Wohnung im Jahr 1901 haben anfertigen lassen. Zwei Betten (in einem hat meine Mutter bis zuletzt geschlafen) und zwei Nachttische haben auch dazu gehört. Ich wollte nie so recht glauben, dass diese Schlafzimmermöbel tatsächlich so alt sind und so viele Umzugsstationen hinter sich haben: Marienburg (Westpreußen) > Berlin-Charlottenburg > Berlin-Zehlendorf > Erftstadt-Liblar > Brühl > Frankfurt > Aachen > Köln-Lindenthal > Köln-Sülz …
Aber das Bild ist der Beweis, das olle Ding ist tatsächlich so alt und so weit gereist.